Der Factor Zeit
- 02 Mai 2012
- Autor: Tina
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Kürzlich zeigte mir ein Mitarbeiter einen Zeitungsausschnitt vom 31. März 1899, auf den er bei Recherchen in einer anderen Sache im Archiv des Gießener Anzeiger gestoßen sei: „Der Dampfer »Bulgaria« ist gestern in Delgada auf den Azoren eingetroffen.
Die Passagiere haben dort Gelegenheit, auf andere Dampfer umzusteigen. Am 1. Februar wurde das Schiff, wie gemeldet, von einem Orkan heimgesucht und das Steuerruder weggerissen. Das Schiff galt als vermißt. Wie jetzt bekannt wurde, brachten es Kapitän Schmidt und seine Mannschaft fertig, am 21. Februar ein Ruder zu setzen. Und das obwohl tagelang dem Wind und den Wellen preisgegeben, sechs bis sieben Fuß hoch Wasser im Schiffsraum stand, die Boote weggeschwemmt wurden und furchtbare Seen über sie brachen. Schließlich erreichte ihr Schiff, das 800 Seemeilen von den Azoren entfernt war, glücklich den oben genannten portugiesischen Hafen.“
Da spielte sich also ein Drama auf hoher See ab – und es vergingen zwei ungewisse Monate bis zum glücklichen Ende. Abgesehen davon, dass mit heutiger Technik die Rettung wesentlich schneller stattgefunden hätte, kann man sich vorstellen, wie wir tagelang mit Bildern, Talkshows und Homestories bombardiert worden wären – bis zum nächsten Knall irgendwo in der Welt. Dann wäre die „Bulgaria“ ganz schnell wieder in Vergessenheit geraten. Die globale Präsenz der Medien, die permanente Kommunikation, die sich in eine Nachrichtenflut ergießt, lassen auch die Zeiträume schwinden. Wir reden von der schnelllebigen Zeit, doch nicht die Zeit ist schneller geworden, sondern die Abstände zwischen „Ereignissen“, wie wir sie wahrnehmen, sind im Lauf der Jahrhunderte immer kürzer geworden. Wir erfahren immer häufiger immer mehr.
Das hatte zur Folge, dass auch der Mensch sich immer schneller organisieren musste. Man erfand immer neue Instrumente, um schneller kommunizieren zu können: Das Automobil und danach die autogerechte Stadt – in der niemand leben möchte.
Das Telefon und danach das Handy, das uns ortsunabhängig macht – aber auch überall findet. Das Radio und danach das Fernsehen, das uns das Weltgeschehen ins Haus liefert – aber auch Not und Schrecken.
Das Internet und danach seine Netzwerke, die uns gefühlt mit der ganzen Menschheit verbinden – aber auch nicht mehr los lassen ….
Die Amerikanismen „time is money“ und „just in time“ beherrschen heute unser Berufsleben und strahlen tief, ja sehr tief, ins Private. Prompt kam dann auch aus den USA das „Speed-Dating“, eine Methode, auf die Schnelle neue Flirt- oder Beziehungspartner zu finden. Da bleibt gar keine Zeit mehr, sich zu verlieben. Da bleibt keine Zeit mehr füreinander. Keine Zeit mehr für Sensibilität und Gefühl. Wollen´se oder wollen´se nicht? Basta!
Das kann unmöglich gut gehen. Immer mehr Menschen fühlen sich gehetzt. Nicht nur von Terminen, sondern auch von den Signalen, die ständig auf sie einstürmen. Wie oft hören wir von „Stress!“ Nur die wenigsten können sich dem Druck entziehen, lassen das Telefon ruhig einmal läuten, ohne gleich dran zu gehen. Nur die wenigsten fühlen sich nicht in feste Zeitpläne eingebunden. Und viele empfinden sich bereits als „Verfügungsmasse“. Kürzlich riet FDP-Chef Rösler den Schlecker-Frauen. „Jetzt gilt es für die Beschäftigten… schnellstmöglich eine Anschlussverwendung selber zu finden.“ Die Sprache verrät sein Denken. Er nennt es sicher liberal…
Es bleibt nur die Hoffnung, dass diese Spirale der Inhumanität endet, dass die nächste Generation es wieder besser macht, menschlicher wird. Sich wieder auf den eigenen, inneren Taktgeber verlässt.
Der Faktor Zeit muss seit Isaac Newton nicht neu definiert werden. Er sagte: „Zeit IST, und sie tickt gleichmäßig von Moment zu Moment.“ Lasst uns das Gleichmaß wieder finden. Lassen wir uns Zeit. Gute Dinge wollen Weile haben. Auch die Liebe. Auch der Partner.
Lassen Sie sich Zeit – beginnen Sie noch heute, sich Zeit zu nehmen. Zeit für das Leben, Zeit für die Liebe.
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